Es sind quälend lange Stunden. Jeder Blick zur Uhr lässt Mareen und Roy Schimmel glauben, die Zeit stehe still. An Schlaf ist für sie in dieser Nacht nicht zu denken: Während ihrem Sohn Kilian gerade ein Spenderherz transplantiert wird, kämpft Zwillingsbruder Jamie auf der Intensivstation um sein Leben.
(Veröffentlicht: Juni 2021)
Kilian, der etwas größere und kräftigere der 13-jährigen Jungen, verspürt 2017 nach dem Fußballtraining erstmalig Herzschmerzen. Die Eltern vermuten eine verschleppte Erkältung als Ursache, stellen ihn aber dennoch einem Arzt vor. Der wiederum überweist seinen Patienten zur genaueren Diagnose ans Herzzentrum Leipzig von Fresenius Helios. „Bei ihrer Untersuchung stellten die Ärzte der Kinderkardiologie bei Kilian eine genetisch bedingte Herzschwäche fest. Da wir ihn bei Helios aber in guten Händen wussten, nahmen wir diese Diagnose noch ruhig hin“, sagt Mareen Schimmel. Vorsorglich lassen die Eltern im Jahr 2019 auch den etwas zierlicheren Bruder Jamie von einer Kinderärztin gründlich untersuchen: Das erstellte Blutbild weist wie schon bei Kilian auf eine genetisch bedingte Herzschwäche, medizinisch Herzinsuffizienz genannt, hin
Ab jetzt nimmt der Leidensweg der Familie seinen Lauf. Im Mai 2020 alarmieren die Eltern den Notarzt, nachdem Jamie Vorboten eines Schlaganfalls zeigte. „Von Magdeburg aus wurde Jamie, wie zuvor schon Kilian, ins Herzzentrum Leipzig verlegt, wo man ihm einen Herzschrittmacher mit integriertem Defibrillator implantierte“, erzählt Roy Schimmel. Nur wenig später müssen die Ärzte denselben Eingriff auch bei Kilian vornehmen.
Die vermeintliche Ruhe, die danach für eine Weile einsetzt, ist jedoch trügerisch. Die Kinder sind immer weniger belastbar. Selten schaffen sie es, wenige hundert Meter ohne Pause zu gehen. Folgerichtig entscheiden die Ärzte im Herzzentrum, beide Jungen auf die Hochdringlichkeitsliste für ein Spenderherz zu setzen.
Am 21. Februar 2021 klingelt am Nachmittag bei Mareen Schimmel das Telefon. „Das Herzzentrum teilte uns mit, dass für Kilian ein Organ bereitsteht. Was mir in diesem Augenblick durch den Kopf ging, kann ich nicht beschreiben”, sagt sie. Kurze Zeit später steht bereits ein Rettungswagen vor der Tür. Bruder Jamie ist zu dieser Zeit bereits dauerhaft stationär im Herzzentrum untergebracht.
In der Helios-Klinik beginnen routiniert eingespielte Abläufe. Kilian wird für die Operation vorbereitet und gegen Mitternacht in die Narkose gelegt. Prof. Dr. Diyar Saeed, Leitender Oberarzt und Bereichsleiter für Herztransplantation und Kunstherzprogramm, sowie Dr. Marcel Vollroth, Oberarzt der Kinderherzchirurgie im Herzzentrum Leipzig, übernehmen die lebensrettende Operation. Ihnen zur Seite steht ein erfahrenes Team von Anästhesisten und Pflegekräften. Von den 339 Herztransplantationen, die 2020 in Deutschland durchgeführt wurden, entfielen 41 auf das Herzzentrum Leipzig. „Allerdings waren dies ausschließlich Erwachsene. Eine Transplantation eines Kinderherzens wurde bei uns im Haus letztmalig 2010 vorgenommen“, so Dr. Vollroth.
Die Ärzte entscheiden, beide Jungen auf die Hochdringlichkeitsliste für ein Spenderherz zu setzen.
Gegen halb fünf Uhr morgens erhalten Mareen und Roy Schimmel den erlösenden Anruf. „Professor Saeed sagte uns, dass der Eingriff ohne Komplikationen verlief und es Kilian den Umständen entsprechend gut gehe“, erzählt Mareen Schimmel. Doch diese Freude wird getrübt durch den Zustand, in dem Jamie sich gerade befindet. Der Junge baut zusehends ab, verliert drastisch an Kraft und fällt in einen lebensbedrohlichen Zustand. Dass Kilian und nicht er das Herz bekommt, liegt an der Größe des Spenderorgans. „Für Jamie war es schon zu groß“, sagt Dr. Vollroth. Die Eltern selbst haben frühzeitig ausgeschlossen, eine Entscheidung zur Reihenfolge zu treffen. „Für uns standen die Jungs diesbezüglich nie in Konkurrenz zueinander“, betont Roy Schimmel.
Um Jamie am Leben zu halten, wird beschlossen, ihm bis zur möglichen Transplantation ein Kunstherz einzusetzen. Ein Gedanke, der sich jedoch schnell erübrigt. Völlig überraschend meldet bereits drei Tage später die internationale Organisation Eurotransplant, die für die Zuteilung von Spenderorganen in acht europäischen Ländern zuständig ist, dass auch Jamie ein neues Herz erhalten werde. „Für das gesamte OP-Team hieß das Zurückspulen und alles auf Anfang“, erzählt Dr. Marcel Vollroth. Gleiche Ärzte, gleiches Team, gleicher professioneller Ablauf. Auch für Jamie beginnt der Sprung in ein neues Leben um Mitternacht und endet knapp fünf Stunden später.
„Für uns standen die Jungs diesbezüglich nie in Konkurrenz zueinander.“
Nach acht Wochen Klinikaufenthalt ist die Familie endlich wieder vereint. An die neuen Lebensrichtlinien für Transplantierte und einen Berg Tabletten haben sich die Jungen inzwischen gewöhnt. Freunde und Verwandte treffen sie aber noch nicht. Auch ohne die Covid-19-Pandemie wäre das Risiko einer Infektion zu hoch. Jamie kann jedoch schon wieder Gitarre üben und Kilian im eigenen Garten Fahrrad fahren.
Im Herzzentrum Leipzig sind alle froh und stolz auf das Erreichte. International hat es in der Herzchirurgie eine solche Situation noch nie gegeben. Die erfolgreiche Transplantation der Zwillinge ist ein Auftaktsignal. „Wir werden künftig wieder verstärkt Herztransplantationen bei Kindern ab einem Alter von etwa sieben Jahren vornehmen“, verdeutlicht Dr. Vollroth, der sich dabei weiterhin der Unterstützung von Prof. Saeed sicher sein kann.
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