Das Piepen des Überwachungsmonitors durchdringt den Raum. Die Herzfrequenz wird immer schneller. Der Patient atmet schwer, beginnt zu husten. Seine rechte Gesichtshälfte ist geschwollen. „Haben Sie irgendwelche Allergien, Herr Schönfeld?“, beugt sich der behandelnde Arzt über seinen Patienten, während er geübt den Hals abtastet. „Keine Allergien“, erwidert der Patient mit schwerer Zunge. Die Sauerstoffsättigung fällt.
(Veröffentlicht: Dezember 2016)
„Soll ich Unterstützung holen?“, fragt die anwesende Gesundheits- und Krankenpflegerin, Romy Wießner, und geht auf ein Nicken von Assistenzarzt Dr. Roland Hiersemann zum Telefon. „Wir benötigen Verstärkung in der Notaufnahme“, spricht sie in den Hörer. Zurück am Bett des Patienten krempelt sie seinen Ärmel hoch und legt eine Venenverweilkanüle an. Beim Zurückziehen der Nadel fließt ein Tropfen Blut. Eigentlich eine normale Reaktion. Doch in diesem Fall handelt es sich um eine technische Raffinesse. Denn Herr Schönfeld ist kein Patient aus Fleisch und Blut, sondern aus Kunststoff und Elektronik.
Im Simulationszentrum am HELIOS Klinikum Hildesheim trainieren Ärzte und Pflegekräfte nicht an echten Patienten, sondern an Hightech-Simulatoren. Sie sehen aus wie ein Patient und können sprechen, atmen, schwitzen, weinen. Man kann ihren Puls tasten und ihnen Blut abnehmen. Dass sie wie echte Patienten reagieren, liegt auch an Stephan Düsterwald, ärztlicher Leiter des Simulationszentrums, und seinem Team.
Während jedes Trainings sitzen sie in einem kleinen Kontrollbereich nebenan. Hinter den Glasscheiben steuern sie die Reaktionen des Simulators – lassen das Herz schneller schlagen und die Augen blinzeln. „Wir können lebensbedrohliche Situationen in einem realistischen Umfeld simulieren, ohne, dass dabei ein Patient zu Schaden kommt. Doch anders als im richtigen Leben sind in diesen Stresssituationen Fehler hier ausdrücklich erlaubt“, erklärt Düsterwald.
„Es hat sich absolut real angefühlt. Vorhin war’s noch ein Stück Plastik. Jetzt war es mein Patient.“
Als das zweite Ärzte-Team um Dr. Martin Köhler eintrifft, ist die Sauerstoffsättigung des Patienten stark gefallen. Er ist in einem kritischen Zustand. „Machst du noch Adrenalin auf 10?“, fragt Dr. Hiersemann in den Raum. Doch niemand antwortet. Die restlichen Mediziner wuseln um das Bett des Patienten herum, holen Medikamente, hängen Sauerstoff an, messen den Blutdruck und blicken immer wieder zum Monitor. Der Zustand des Patienten bessert sich jedoch nicht. Er muss intubiert werden.
Schnell leiten die Ärzte die Narkose ein und beginnen mit der Intubation. Diese gestaltet sich jedoch schwierig, denn Hals und Rachen des Patienten sind stark angeschwollen. Während Dr. Köhler vorsichtig den Beatmungstubus einführt, hört Dr. Hiersemann den Patienten ab. Wenige Sekunden ruht sein Stethoskop auf der Plastikbrust. Dann ist klar: „Der Tubus liegt korrekt.“ Daraufhin startet das Behandlungsteam die Beatmung und verfolgt erleichtert, wie die Sauerstoffsättigung wieder steigt.
Plötzlich Stille. Das Piepen des Überwachungsmonitors verstummt. Düsterwald und sein Team betreten den Raum und beenden das Szenario. Die Viertelstunde Training ist vorbei, die Stimmung angespannt. Erst langsam fällt der Druck von den Teilnehmern ab. „Es hat sich absolut real angefühlt“, äußert sich Dr. Köhler. Ganz automatisch geht er zum Desinfektionsspender und reibt sich die Hände ein. „Vorhin war’s noch ein Stück Plastik. Jetzt war es mein Patient“, sagt er etwas ungläubig.
Menschen machen Fehler. Bei Routineaufgaben im Schnitt alle 30 Minuten. Jeder. Wenn die Aufgaben komplexer werden und das Stresslevel steigt, passieren Fehler weitaus häufiger. Laut Studien bis zu zweimal pro Minute. „Auch Profis machen Fehler. Da wir alle Trainings aufzeichnen, können wir selbst kleine Unstimmigkeiten sichtbar machen und gemeinsam mit den Teilnehmern analysieren, wie man sie hätte verhindern können. So verbessern wir letztlich die Sicherheit unserer Patienten“, erklärt Düsterwald. „Unsere Ärzte und Pflegekräfte können auf einen großen Wissens- und Erfahrungsschatz zurückgreifen. Auch in schwierigen Situationen ist das Wissen zur Lösung des Problems häufig im Raum. Wir müssen nur sicherstellen, dass die richtigen Maßnahmen beim Patienten auch wirklich durchgeführt werden. Die Kommunikation im Team und mit dem Patienten spielt hierbei eine wichtige Rolle. Deshalb legen wir in den Trainings darauf einen Fokus.“
Im Nebenraum finden sich die Teilnehmer schließlich zur Nachbesprechung ein. Gemeinsam schauen sie sich einige Schlüsselszenen an. Aus der Distanz beobachten sie ihre eigenen Reaktionen, loben sich gegenseitig für gelungene Diagnosen, aber kritisieren auch offen und konstruktiv. „Die Übergabe an das zweite Ärzteteam hätte koordinierter sein können“, äußert sich Bastian Overheu, stellvertretender Leiter im Simulationszentrum. „Es war nicht mehr klar, wer das Team gerade anführt. Eine kurze Pause, beispielsweise nach dem 10-für-10-Prinzip, hätte die Situation ordnen können.“ Laut diesem Prinzip sollen Ärzte und Pfleger immer wieder, gerade in hektischen Situationen, kurze Pausen einlegen. Etwa alle zehn Minuten für jeweils zehn Sekunden. Das gibt dem behandelnden Arzt die Möglichkeit, seinen Plan laut auszusprechen. So ist sichergestellt, dass alle im Team das gleiche Verständnis der Situation haben und auch gute Ideen der Pflegekräfte nicht ungehört bleiben.
„Gerade gut eingespielte Teams haben oft stillschweigend dasselbe Verständnis von einer Situation. Sie kommunizieren fast ohne Worte. Missverständnisse sind zwar selten, aber sie können vorkommen. Es ist daher immer gut, seinen Kollegen zu signalisieren, dass man Fragen oder Anweisungen gehört hat. Das ist ein einfacher und wichtiger Sicherheitsmechanismus, den wir allen unseren Teilnehmern mitgeben“, erläutert Düsterwald.
Seit 2016 ist bei Fresenius Helios das Simulationstraining für alle Ärzte und Pfleger in den Risikobereichen, also Intensivmedizin und Anästhesie, verpflichtend. Auch Fachkräfte aus der Notfallmedizin, Geburtshilfe und dem Herzkatheterlabor trainieren hier regelmäßig ihre Fertigkeiten. Weitere Konzepte sind im Bereich Gastroenterologie und Chirurgie geplant. An den drei Standorten für Simulationszentren Erfurt, Hildesheim und Krefeld, finden mehr als 600 Trainingstage pro Jahr statt. Alle Teilnehmer trainieren nach einheitlichen Standards und in voll ausgestatteten OPs und Behandlungsräumen. Eine Besonderheit in Krefeld ist ein ins Zentrum fest integrierter Simulationsrettungswagen mit vollständigem Original-Innenleben samt Heck- und Seitentüren. HELIOS hat rund zwei Millionen Euro in die drei Simulationszentren investiert.
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